Dienstag, 4. September 2012

Seelenleben


Alte, heiserne Gitarrensaiten verdarben den Klang meines Gedankengesangs und schreckten Enten zurück, die auf waren, um mir Stücke meines Graubrotes zu stehlen, das ich schon fast vergessen hatte. Ich nahm einen Bissen und legte es wieder beiseite. Nachdem ich ein paar Stücke von Einaudi durchging, zog ich die Schuhe aus und tauchte meine Fußspitzen voller Sehnsucht in den kalten See. Ob hier wohl je einer drin ertrunken ist? Ich lachte innerlich über die Banalität meiner Gedanken und zog zur Sicherheit trotzdem meine Beine in einen Schneidersitz zurück. Als ich mich nochmal nach vorne lehnte, um mein Spiegelbild zu sehen, rutschte mir die Brille von der Nase und drohte ins Wasser zu fallen. Kurz bevor der rechte Bügel den Aufschlag aufs Wasser wagte, griff eine dünne, zierliche und schneeweiße Hand danach und hielt sie mir hin. Als ich den Kopf hob, traf mich der Schlag.
'Ich wollte dir keine Furcht einjagen, Entschuldigung!' 
Nach langer Atempause bemerkte ich erst, dass ich mir die rechte Hand vor den Mund presste und wahrscheinlich vor Schreck aufgesprungen sein muss. Das, was mir gegenüberstand und gut einen Meter kleiner war, als ich, reichte mir meine Brille. 
Alabasterweiße Haut und so weich aussehendes blassblondes Haar, dass man danach greifen wollte, zierten eine robuste Figur in hellgrüner Kleidung.
Ich ertappte mich dabei, nach Flügeln oder spitzen Ohren zu suchen, um mich zu vergewissern, dass ich grade in den See gefallen sein und mich nun im Delirium befinden muss.  
'Was ist nun? Mir würde sie nicht steh'n, aber ich würd' sie verticken, wenn du sie nicht wiederhaben möchtest.' Es hob die nicht vorhandenen Augenbrauen und grinste neckisch. Die unergründlich tiefgrünen Augen strahlten ohne zu blenden und die puterroten Lippen ließen hinter einem hellgrünem Schleier, der dem einer Braut ähnelte, etwas Feminines vermuten. Jedoch war der Körperbau zu schlaksig und steif, um der einer Frau sein zu können. Verwirrt griff ich nach meiner Brille, schloss die Augen und hoffte vor dem Öffnen, ich hätte bloß einem Kleinwüchsigen Unrecht getan. Anscheinend hatte dieser Gedanke eine Ewigkeit gedauert, denn die Kreatur, die in der Sonne zu glänzen schien, kauerte bereits an der anderen Seite des Stegs, riss Stücke von Grashalmen ab und warf sie in den See, um zu beobachten, wie sie darin versickerten. 
'Sag mal, hast du auch 'ne Sonnenbrille dabei oder liegt die schon da unten?' 
Es deutete mit dem Kinn auf den See und kniff dabei die Augen wegen der tiefstehenden Sonne zusammen. Desorganisiert und ratlos flüsterte ich eine Entschuldigung, die ich unterbrach, als ich tiefe dunkle Wunden auf dem Rücken der Erscheinung entdeckte. Viele waren frisch und kaum verheilt, andere schmerzhaft vernarbt, wieder andere durch blaue Flecken untermalt, als bildeten sie das Fundament einer peinigend sadistischen Zeichnung. Ich schämte mich, dass ich jemanden, etwas, mustere, nein, es studierte, es bedauerte, obwohl es das nicht zu wollen schien und wollte grade den Kopf abwenden, als es mit gleichgültiger Miene über seine Schulter schaute. 'Das hier? Das passiert, wenn Zwei sich streiten und der Dritte sich nicht freut. Das Schlimme aber, ist das Bleibende, wenn die Schuldigen es nicht behandeln, wenn sie mein Leiden ignorieren.'
Ich wusste nicht, was ich mit der Aussage anfangen sollte und wartete, bis es wegschaute, damit ich es unbeobachtet weiter betrachten konnte. Das Wesen zog mich in seinen Bann und beraubte mich all meiner Aufmerksamkeit. Es saß nun kerzengerade und wirkte dabei so natürlich, wie es sein Aussehen zuließ. Ich bewunderte seine Aura und das es in einigen kurzen Momenten makellos zu sein schien, seine warme Ausstrahlung und das Wohlsein, das ich empfand, was mich zu gleichem Teil stutzig machte, weil mir das Seiende, was nun nur noch einige Zentimeter von mir entfernt saß völlig unbekannt und gleichzeitig so vertraut gewesen war.
Plötzlich stand es auf und machte den Anschein zu gehen. Als ich seine vor Kraft strotzenden Beine beim Fortgehen beobachtete, dachte ich, wusste ich, warum es keine Flügel bräuchte. 

Ich fragte nach seinem Namen,
Das Ding hieß 'Liebe'.